Wo andere sterben wollten…
…Eintrag am siebzehnten Juni 2014
Nach dem Besuch der Stadt in der Dichter sterben wollten und in der andere, die darauf gar nicht so erpicht waren, auf jener bekannten Brücke ihren letzten Seufzer taten, bleibt dem fußkrank gelaufenen Stadttouristen nur die eine Frage: Wie viele Lügen werden wohl all die Millionen langgesichtiger, verschwitzter, frustrierter, verlaufener und verlorener Zeugen dieses zeitgeschichtlich fortwährenden Zirkus, dieser immensen, kreischenden, brodelnden Kirmes an Verwandte, Freunde und Bekannte weitergeben.
Das hört sich dann in etwa so an: “Und dann erst der Blick auf dem Markus Platz auf die Basilika, über die Lagune, die Gondeln, dem wunderbaren Dogenpalast….” usw. Kein Sterbenswort über den Streit mit dem Partner, nicht eine Silbe über den maßlosen Kitsch, der so laut, so grell und schrill schreit, dass selbst die Lautstärke der Touristen dagegen wie ein Säuseln wirkt. Der Kitsch, der angeblich in keiner Wohnung des Venedig reisenden Bildungsbürgers ein Zuhause finden kann, nein, nicht finden darf, aber diese Stadt mehr ausmacht als jedes herrgottschnitzendes Oberammergau, wird in den Erzählungen verschwinden und der reinen und puren Geschichtsbewunderung und schwülstig bis sentimental verklärten Künstlerbeschreibung vergangener oder heutiger Größen folgen.
Man muss einfach dagewesen sein. Alle Welt muss dagewesen sein , koste es, was es wolle. Selbst die Scheidung oder die Trennung vom uneinsichtigen Partner, will einem scheinen. Gerade beim Anblick des offensichtlich frischen Ehemanns, der mit den Koffern seiner ansonsten Angebeteten, schmerz- und wutbeladen zum siebenten oder achten Mal in die falsche Gasse folgt. In der soll sich angeblich das Hotel ihrer Träume befinden und in der taucht doch nur wieder irgend ein Kanal auf, mit friedlich, fröhlich und selig grinsenden Touristen, die in golden oder silbern beschlagenen Gondeln zu horrenden Preisen hin und her geschippert werden. Und die Kinder, die, vermutlich traumatisiert, von Hunderttausenden wuselnden, schwitzenden, schwatzenden, rufenden , schreienden, gold- und gondelbeseelten zukünftigen Venedig Experten noch in hohem Alter diese Stadt meiden werden, wie der ehemalige venezianische Adel das Weihwasser besser gemieden hätte; bei deren Anblick wird möglicherweise selbst dem Narren, der seiner großen Liebe hierher in die Flitterwochen gefolgt ist, und der ihr immer noch von Gasse zu Gasse folgt klar, das er besser darauf bestanden hätte, woandershin zu fahren.
Und zwar mit Nachdruck. Ins Hinterland beispielsweise, wo um Bassano del Grappa, Marostica oder Fara Vicentino die Natur Paläste, Kathedralen und Burgen baute, wie sie noch kein Architekt kein venezianischer Baumeister auch nur denken konnte. Es hätte ihm oder ihr die Beschwernisse der größten touristischen Unmöglichkeit erspart und vermutlich eine Ehekrise eine Ehescheidung oder doch zumindest das Auseinandergehen für mehrere Jahre verzögert. So wird das Paar womöglich den einen oder anderen Kitsch und Tant in der gemeinsamen Wohnung vor den Augen ihrer Besucher verstecken und Venedig wie Millionen andere in eine romantisch, schöne Erinnerung verwandeln, in der eigentlich nur sie existierten, ähnlich wie Schauspieler in einem schwülstigen Liebesfilm oder die Hauptdarsteller in einem der zigtausend Romanschmonzetten. All die kulturellen Sehenswürdigkeiten, die sie während ihres Aufenthaltes gar nicht sehen konnten, weil überlaufen, werden in ihren Erinnerungen als tatsächliche Wahrnehmungen erscheinen, denn letztendlich kann man sich Alles und Jedes ja auch per Internet in 3d und virtuell ansehen. Diejenigen, die über die Ausdauer verfügten, sich drei Stunden in die Schlange zu stellen, um sich beispielsweise den Dogenpalast anzusehen, werden über diesen Part vermutlich schweigen oder sich lediglich über die deutschen Touristen lustig machen, die, wie immer und woanders auch, schon vor Morgengrauen aufgestanden waren und bereits zwei Stunden vor der Öffnung als erste in der Schlange standen. Erfahrene Venedig Besucher, die vermutlich ihrer vierten Scheidung ähnlich stoisch entgegensehen, wie dem schweißtreibenden Bad in der Menschenmenge dieser Stadt, raten denn auch schon mal zu einem Besuch in den Monaten November oder März und vergessen dabei geflissentlich, die Erkältung zu erwähnen, die sie für die Zeit ihres Aufenthaltes ans Hotelbett fesselte. Ein großer Vorteil, denn wenn eisiger Wind durch die Gassen der Lagune fegt und der niemals versiegende Strom der Touristen jetzt Schirm- und schlechtester Laune bewehrt nur noch zwei Stunden vor den Sehenswürdigkeiten wartet, ist man in einem warmen Hotelzimmer ohnehin besser aufgehoben. Das ist wahrscheinlich das Große, das Magische, das diese Stadt ausmacht. Die Verwandlung profaner, unerfreulicher Erlebnisse in einen romantischen, unvergesslichen Aufenthalt, in die Illusion für einige Tage in einem Märchen gelebt zu haben, in dem natürlich das Happy End die entscheidende und alles andere überwiegende Aussage ist.